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Auf den Spuren der Herborner Encyclopaedia, 2. Teil

Auf den Spuren der Herborner Encyclopaedia, 2. Teil

Herborn, 31.03.2011: Von Kiel bis Augsburg, von Den Haag bis Frankfurt an der Oder. Die Verbreitung und Resonanz der Encyclopaedia in Deutschland und in den Niederlanden

Wer heutzutage in Europa die Erfolgsaussichten eines Buches einschätzen soll, wird zunächst den Buchmarkt ins Auge fassen, den die Sprache, in der es verfasst ist, anbietet. Zu Alsteds Zeiten kam der nationalsprachlichen Literatur auch bereits bedeutender Rang zu und die Hohe Schule wirkte daran mit: Das Herbornische Bibelwerk war ganz auf Deutsch geschrieben, die erste Übersetzung der Psalmen ins Ungarische erschien im Verlag Corvins fast gleichzeitig in Herborn und Pressburg. Eine Verbreitungskarte wird freilich zeigen, dass das Herbornische Bibelwerk eben hauptsächlich in deutschsprachigen Siedlungsgebieten vorkommt, während Alsteds lateinische Encyclopaedia eine Verbreitung sowohl in Europa, als auch in Amerika, unabhängig von der deutschen Sprache, erlebte. Latein verstand man zwischen Island und Sizilien, Lissabon und der Ostgrenze des Königreichs Polen. Es gab auch keine Sprachgrenze gegenüber der Neuen Welt: Ob spanische Eroberer oder puritanische Pilgerväter, zumindest die Lehrer und Geistlichen, die mit ihnen zogen, beherrschten Latein und bauten Belehrung und Erbauung auf lateinischer Literatur auf. Der Grund, warum Deutschland und die geographisch, historisch und sprachlich eng benachbarten Niederlande dennoch für unsere Spurensuche besonders wichtig sind, liegt einerseits selbstverständlich in der bedeutenden Verbreitung, die die Encyclopaedia hier fand, zum andern aber auch in der vielfältigen Auseinandersetzung mit diesem monumentalen Werk, die sich hier ereignete.

Will man die Resonanz eines Buches im Europa des 17. Jahrhunderts erforschen, muss man immer die Religion im Auge behalten. Das Heilige Römische Reich stellte sich dabei als Mikrokosmos Europas dar, nicht zuletzt deshalb, weil hier drei der vier abendländischen Hauptkonfessionen, Katholiken und Evangelische Augsburger („Lutheraner“) und Reformierter Konfession („Calvinisten“), nebeneinander bestanden, seit dem Westfälischen Frieden von 1648 sogar gleichberechtigt. Der Ausgleich zwischen den Konfessionen bedeutete nun freilich nicht, dass man in der Literatur ohne Vorbehalte miteinander umging. Zensur gab es überall, die der katholischen Kirche war jedoch besonders gut organisiert und wurde durch den bekannten römischen „Index“ (der verbotenen Bücher) im Laufe der Zeit sehr berüchtigt. In diese zerklüftete Kulturlandschaft entließen Corvins Erben 1630 das Juwel der literarischen Produktion Herborns, die Encyclopaedia. Gerade noch rechtzeitig bevor der Ruin des Reiches durch den Grossen Krieg auch die Frankfurter Buchmessen für beinahe ein Jahrzehnt lähmte, konnte sie noch in Umlauf gebracht werden. Überall im Reich und in den Niederlanden fand sie Beachtung und wurde gekauft. In Den Haag besaß sie der Diplomat, Poet und Komponist Christian Huygens sen., Gründer einer Dynastie von Intellektuellen, im katholischen Mainz Johann Christian v. Boineburg, Minister des Kurfürsten und Erzbischofs, in Frankfurt an der Oder die Universität und das Gymnasium Fridericianum. In Augsburg wurde der Unterricht am berühmten Gymnasium bei St. Anna in wichtigen Teilen auf die Encyclopaedia gegründet, in Ulm empfahl der Leiter des Schulwesens dieser Reichsstadt den naturwissenschaftlichen Teil des Werkes. Eben dies fand auch im Hohen Norden Deutschlands besonders lobende Beachtung. Die große Leuchte der Universität Kiel, Georg Daniel Morhof, würdigte Alsteds Darstellung von Naturwissenschaften und Technik. Die Qualität volle Abhandlung der Mathematik rühmte der Amsterdamer Universalgelehrte Vossius. Die höchste Ehrung, die die Herborner Encyclopaedia erfuhr, kam von dem weltberühmten deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz. Er plante sogar, sie modernisiert neu heraus zu geben und ließ deshalb in Herborn Nachforschungen nach dem Verbleib des ergänzten Handexemplars des von ihm hoch geschätzten Autors anstellen.

Text: Rüdiger Störkel

Bild: Jens Trocha