Gegen das Vergessen – aus Vergangenheit lernen
Zu einer Gedenkstunde haben sich am Vormittag des 9. November 2024, zahlreiche Menschen am Herborner Holocaust-Denkmal, Walther-Rathenau-Straße am Eisernen Steg, eingefunden. Der stellvertretenden Stadtverordnetenvorstehers Lukas Winkler hielt, in Vertretung für Stadtverordnetenvorsteher J. Michael Müller, eine Ansprache, deren Wortlaut wir hier wiedergeben. Es gilt das gesprochene Wort.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir sind heute an diesem Ort zusammengekommen, um gemeinsam zu erinnern.
Der 9. November ist für die Deutsche Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes ein Schicksalstag. Er verbindet wie kein zweiter historisch bedeutsame Ereignisse, die das Deutsche Gewissen prägen – im Guten wie im absolut Bösen.
1848 wird der Revolutionär Robert Blum, Mitglied des Paulskirchenparlaments widerrechtlich erschossen, die erste Demokratie auf Deutschen Boden scheiterte wenig später.
1918, kurz vor Ende des verheerenden Ersten Weltkriegs endet an diesem Tag die Deutsche Monarchie und mit der Ausrufung der Weimarer Republik gelingt die Einrichtung der ersten deutsche Demokratie 70 Jahre nach dem Scheitern der Paulskirchenverfassung.1923 wird diese junge Demokratie in unmittelbarer Folge durch den aufkeimenden Nationalsozialismus und den sogenannten „Hitler-Ludendorff“-Putsch in München gefährdet. Über 60 Jahre später fällt an diesem Datum 1989 mit der Berliner Mauer die schmerzliche Trennung beider Deutschen Staaten und der Weg zur deutschen Wiedervereinigung wird geebnet.
Und dann ist da diese eine Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, die alle anderen Ereignisse überschattet. Eine Nacht, in der das Deutsche Volk ein für alle Mal sein Gesicht vor der Welt verlor. Eine Nacht, in der die Barbarei des Nationalsozialismus alle Hemmungen und Hüllen fallen ließ. In jener Nacht brannten die Synagogen. Geschäfte und Wohnungen jüdischer Familien wurden zerstört, Menschen wurden gedemütigt, misshandelt, verhaftet, in Konzentrationslager verschleppt und viele von ihnen auch getötet. Die Reichspogromnacht war eine Zäsur, der grausame Höhepunkt jahrelanger Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Menschen in Deutschland. Diese Nacht markierte den Beginn der systematischen Vernichtung jüdischen Lebens in Europa, die in den folgenden Jahren Millionen von Menschen das Leben kostete.
Die Einzigartigkeit dieser Nacht zeigt sich auch in der Tatsache, dass sie kein Ereignis einer Großstadt war, sondern dass sie das damalige Deut-sche Reich bis in die Kleinstädte und Dörfer erfasste.
Vor wenigen Monaten durften wir Zeugen sein, wie die noch fehlenden Stolpersteine der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gesetzt wurden, die von jetzt auf gleich ausgegrenzt, deportiert und ermordet wurden. Sie mahnen uns täglich, welche Macht der Hass über Menschen gewinnen kann. Herborner Bürger, deren Glaubenszugehörigkeit plötzlich den Unterschied machte. Ich stieß vor Kurzem bei einer Recherche im Zeitungsarchiv auf eine große Anzeige aus dem Herborner Tageblatt von 1930 – Maßgeschneiderte Konfirmandenanzüge bei Leopold Hecht in der Hauptstraße 80. Stets geachtet für sein feines Hand-werk – das ist nachweisbar. 1942 wurde er im Alter von 80 Jahren nach Theresienstadt deportiert und kurz darauf im selben Jahr ermordet. Beim Anblick der Anzeige verweilte ich kurz und mir schoss durch den Kopf: es waren teils geachtete Menschen aus der Herborner Bürgerschaft, deren Reputation durch den gesäten Hass zerstört wurde. Wie konnte das geschehen?
Das Erinnern ist nicht einfach. Es ist schmerzhaft, und es zwingt uns, das Unvorstellbare zu ertragen. Es zwingt uns, Fragen zu stellen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Wie war es möglich, dass Nachbarn zu Tätern und Mitwissern wurden? Wie war es möglich, dass eine Gesellschaft in weiten Teilen wegsah, als Unrecht, Hass und Gewalt eskalierten? Und wie können wir heute – nach allem, was geschehen ist – eine Gesellschaft gestalten, die sicherstellt, dass sich solche Verbrechen niemals wiederholen?
Die Erinnerung an die Opfer der Reichspogromnacht ist ein Auftrag an uns alle. Sie ist eine Verpflichtung, uns für eine Gesellschaft einzusetzen, in der Diskriminierung, Hass und Antisemitismus keinen Platz haben dürfen. Und sie fordert uns auf, Verantwortung zu übernehmen, auch wenn es unbequem ist. Unsere Demokratie, unser Zusammenleben sind nur so stark, wie wir bereit sind, für sie einzutreten und sie zu verteidigen.
Wenn wir heute an die Ereignisse der Reichspogromnacht erinnern, dann auch, um die Brücke zur Gegenwart zu schlagen. Der Antisemitismus ist kein Relikt der Vergangenheit. Auch heute noch erleben jüdische Menschen in Deutschland und Europa Ausgrenzung, Anfeindungen und Angriffe. Vorgestern Abend kam es zu Pogromartigen Szenen gegen israelische Fans bei einem europäischen Fußballspiel in Amsterdam – eine Schande für ein freies Europa. Vor wenigen Wochen geschah es, dass ein Länderspiel zwischen Belgien und Israel in Ungarn statt beim Gastgeber abgehalten werden musste, weil keine belgische Stadt für die Sicherheit der israelischen Fans garantieren wollte. Eine widerliche Täter-Opfer-Umkehr und das alte Narrativ: die Juden seien selbst Schuld an ihrem Unglück.
Im letzten Jahr wurde das Holocaust-Mahnmal kurz nach dem größten Pogrom gegen Juden nach der Shoa im Nahen Osten am 7. Oktober durch ein Hakenkreuz und die Aufschrift „Hitler“ geschändet. Der Antisemitismus ist da, er ist real und er ist nicht auf den Rechtsextremismus beschränkt – viel zu lange haben wir davor die Augen verschlossen.
Wir alle tragen die Verantwortung, diesem Hass entschlossen entge-genzutreten. Es reicht nicht aus, in stillem Gedenken innezuhalten. Es ist an uns, durch unsere Taten zu zeigen, dass wir Antisemitismus, Rassismus und jede Form von Menschenverachtung nicht dulden.
Eine Gesellschaft, die sich ihrer Geschichte nicht stellt, riskiert, ihre Menschlichkeit zu verlieren. Eine Gesellschaft, die aus der Vergangenheit lernt, kann jedoch eine Zukunft aufbauen, die auf Respekt, Solidarität und Menschlichkeit gründet. Unser Erinnern soll deshalb nicht nur im Gestern verharren. Es soll unser Heute und unser Morgen formen.
Lassen Sie uns heute gemeinsam an die Menschen denken, die in der Reichspogromnacht Opfer von Hass und Gewalt wurden: in Herborn und an vielen anderen Orten. Lassen Sie uns ihrer gedenken und sie eh-ren, indem wir in ihrem Sinne weiter für ein friedliches, demokratisches und respektvolles Miteinander eintreten.
Möge unser Gedenken heute ein Zeichen der Hoffnung sein – die Hoffnung auf eine Welt, in der jeder Mensch in Würde und Freiheit leben kann.