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"Hungerbrötchen" erinnert an das "Jahr ohne Sommer" Ist das"Objekt des Monats" im Stadtmuseum das vielleicht älteste Brötchen Deutschlands?

"Hungerbrötchen" erinnert an das "Jahr ohne Sommer" Ist das"Objekt des Monats" im Stadtmuseum das vielleicht älteste Brötchen Deutschlands?

Manches Ausstellungsstück im Herborner Stadtmuseum erblickt eher selten das Tageslicht. Manche Gegenstände aus der Vergangenheit passen thematisch einfach nicht in die Dauerausstellungen. Aber vielfach wäre es einfach zu schade, solche Zeugnisse früherer Zeiten in den Archivräumen schlummern zu lassen. Deshalb stellt das Stadtmuseum Herborn regelmäßig ein „Objekt des Monats“ vor, das so interessant ist, dass es nicht unbeachtet verstauben sollte.

Ende vergangenen Jahres ging es durch die Zeitungen: Das älteste Brötchen Bayerns wird 2017 für ein Nahrungsmittel kaum vorstellbare 200 Jahre alt. Ein dazugehöriger Zettel nennt in verblasster Schrift den Namen des Bäckers, der die Semmel 1817 gebacken haben soll. Ulrike Litzba, die Leiterin des Herborner Stadtmuseums, hält das für durchaus denkbar: Im Tresor des Museums lagert nämlich ein Brötchen, das genauso alt sein dürfte. Dafür spricht außer der "Größe" auch das Holzkästchen, in dem das steinharte Backwerk aufbewahrt wird: Auf der Seite findet sich ebenfalls die Jahreszahl 1817. Das Kästchen scheint tatsächlich alt zu sein, weist doch das Glas Lufteinschlüsse auf. Rüdiger Störkel als ehemaliger Stadtarchivar ordnet auch die Tapete, die auf das Holz geklebt ist, jener Epoche zu. Eine Palme und ein Reiter sind darauf zu erkennen; auf der Unterseite finden sich goldfarbene Reste.

Von "Größe" zu reden, ist allerdings in Bezug auf das Brötchen kaum angebracht, ließe es sich doch mühelos in einem Stück verputzen, wenn es denn noch genießbar wäre. Das zierliche Format hat aber nichts damit zu tun, dass es sich um eine ausgewählte Köstlichkeit handelte - ganz im Gegenteil, denn es handelt sich bei dem Herborner ebenso wie bei vielen anderen in diversen Museen der Republik vorhandenen Exemplaren um sogenannte Hungerbrötchen. Wegen einer schrecklichen Hungersnot mussten die Bäcker ihr Mehl mit Heublumen und Kleie, aber auch mit gemahlenem Stroh, Holzspänen oder Baumrinde strecken, um überhaupt etwas backen zu können. Daraufhin wurde festgelegt, wieviel Getreide in einer bestimmten Anzahl Brötchen noch enthalten sein musste. Der Begriff "kleine Brötchen backen" stammt aus jener Zeit, weiß Ulrike Litzba.

Die Hungersnot war Folge eines Vulkanausbruchs, der als der gewaltigste seit dem Beginn der Geschichtsschreibung gilt. Am 5. April 1815 explodierte der Tambora im heutigen Indonesien regelrecht: Der Vulkan war danach rund 1500 Meter niedriger, zurück blieb eine 1000 Meter tiefe und sechs Kilometer breite Caldera. Der Ausbruch hatte unschätzbare Mengen Asche und Staub in die Atmosphäre geschleudert, die das globale Klima langfristig veränderten. Vor allem Nordamerika und Europa waren betroffen: "Es wurde über Monate nicht mehr richtig hell, und die Temperaturen sanken um durchschnittlich drei Grad", zitiert die Museumsleiterin die Quellen. Dramatische Missernten waren die Folge: "In Nordamerika gab es Nachtfröste und Schnee bis in die Niederungen im Juli und im August", berichtet sie. Die Getreidepreise stiegen um ein Vielfaches, in  der Schweiz bis zu 600 Prozent. Durch das feuchte Klima trat zudem das giftige Mutterkorn vermehrt im Getreide auf. Aus Tagebucheinträgen weiß Ulrike Litzba, dass die Menschen in der ohnehin armen Nachkriegszeit mit Moos, Blumen und aufgebrühtem Gras zu überleben versuchten.

Wahrscheinlich erst gut hundert Jahre später habe man erkannt, worauf das "Jahr ohne Sommer" wirklich zurückzuführen war - die Zeitgenossen hätten zumeist eine göttliche Strafe wegen des Krieges vermutet, erläutert die Museumsleiterin. Wie so oft in der Geschichte galt aber auch damals die Volksweisheit "Not macht erfinderisch", ergänzt sie: Das Laufrad beispielsweise erfand Karl Drais 1817, als fast alle Pferde verhungert, geschlachtet oder im Krieg umgekommen waren. Justus von Liebig, der in seiner Jugend das Hungerjahr erlebte, erkannte den Einfluss von Mineralsalzen auf das Wachstum von Pflanzen und entwickelte den Kunstdünger. Auch die Kunst blieb von dem verheerenden Vulkanausbruch nicht unbeeinflusst: Die Asche in der Atmosphäre sorgte für Lichteffekte, Stimmungen und spektakuläre Sonnenuntergänge, die beispielsweise William Turner, Caspar David Friedrich und Carl Spitzweg verewigt haben.

Ob das Herborner Brötchen nun tatsächlich das älteste Hessens oder Deutschlands ist, spielt im Wissen um diese Zusammenhänge kaum noch eine Rolle, zumal es in Österreich sogar ein fast 3000 Jahre altes Backerzeugnis geben soll. Ziemlich sicher ist es aber das älteste Brötchen Herborns und als solches ab sofort im Stadtmuseum in der Hohen Schule zu den Öffnungszeiten (mittwochs, donnerstags, samstags und sonntags jeweils von 13 bis 17 Uhr) sowie nach vorheriger Absprache (zum Beispiel für Gruppen, Schulklassen o. ä. auch vormittags) zu sehen. Weitere Informationen gibt es bei Ulrike Litzba, Tel.: (02772) 57 38 10, sowie im Internet unter www.museum-herborn.de. (klk)