„Vom Westerwälder Arbeitermädchen zur Bundestagsabgeordneten“. Das ist die Kurzfassung der Biografie von Lucie Kurlbaum-Beyer (geb.Fuchs, 1914-2008), die in der Nachkriegszeit SPD-Stadtverordnete in Wetzlar war und 1953-69 ihre Partei im Deutschen Bundestag vertrat. Ihre Lebensstationen – und damit viele Kapitel Sozialgeschichte des vergangenen Jahrhunderts – ließen Irmgard Mende und ihre Kollegin Chris Sima bei einer Lesung im Rahmen des diesjährigen Internationalen Frauentages im Café Vinyl Revue passieren.
Wer am 8. November die Lesung in der Stadtbücherei Herborn besucht, erfährt etwas über die kargen Lebensbedingungen von Arbeiterfamilien in der Weimarer Republik. Wo der Zugang zu höherer Bildung versperrt blieb, verschafften Zusammenhalt und Solidarität im Alltag den Angehörigen des sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Milieus Selbstbewusstsein und Sicherheit. Auf dem Lande war nach einer Hausschlachtung der gemeinsame Verzehr der „Metzel-Supp“ ein Gemeinschaft-stiftendes Ritual: „Das Verteilen der Wurstsuppe wurde wie ein Gesetz gehandhabt. Niemand blieb außen vor. Besonders gut war die Brühe, wenn vorher Würste geplatzt waren“, heißt es in den 2004 unter dem Titel „Krieg tötet Zukunft“ erschienenen Lebenserinnerungen von Lucie Kurlbaum-Beyer.
In den 20er Jahren waren die von SPD und Gewerkschaften organisierten „Konsumgenossenschaften“ überlebenswichtig: „Nur durch den Konsumverein konnte Hunger vermieden werden, vor allem in Familien, wo der Ernährer im Krieg umgekommen war.“ Politische Versammlungen fanden im Wohnzimmer der Eltern statt. Es ging dabei um fehlenden Arbeitsschutz in den Betrieben und die Unterstützung von Not leidenden Genossen. Ein vom Staat geknüpftes „soziales Netz“ gab es nicht. An der Realschule in Herdorf erwarb Lucie Fuchs 15-jährig die Realschulreife und trat 2 Jahre später in Köln eine Sekretärinnen-Stelle beim Bergarbeiterverband an. 3 Jahre lang ist sie die Vorsitzende einer Gruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ).
Schon als Kind hatte sie auf 1. Mai-Kundgebungen Gedicht-Verse vorgetragen: „Durch meine Hose und mein Hemd pfeift der Wind – ich bin ein Arbeiterkind.“ Als 1933 der 1. Mai zum „Tag der nationalen Arbeit“ erklärt wird, verliert Lucies Vater als „Roter“ seine Arbeitsstelle. Das SAJ-Vereinsheim wird der Hitlerjugend übertragen. In den letzten Kriegstagen wird Vater Fuchs als Wehrmachtssoldat erschossen. In SPD-Kreisen hatte man ihn für eine Verwendung als Landrat von Altenkirchen vorgesehen. Über den Kontakt zum Wetzlarer Landrat Konrad Miß kommt Lucie Beyer nach Wetzlar, wo sie auch ihr zweites Kind zur Welt bringt. Sie kümmert sich um Kriegstraumatisierte und um Wohnraum für die große Zahl an Flüchtlingsfamilien aus den deutschen Ostgebieten. Bei einem Bauern, der ihm zugewiesene Flüchtlinge in einem unbeheizten Verschlag unterbringt, werden große Mengen Fleischwaren in einer Räucherkammer entdeckt.
Die städtische Bedienstete geht pragmatisch damit um: Statt Strafverfolgung muss sich der Landwirt auf einen Interessensausgleich mit den Habenichtsen einlassen. Bei Philipps werden damals Autoradios in Serie produziert. Durch die enge Taktung (2 Minuten pro Arbeitsgang) kommt es zu Überlastung und Ohnmachtsanfällen unter den Arbeiterinnen. Die SPD-Kreisvorsitzende und Stadtverordnete ist eine frühe „Netzwerkerin“ und erreicht über ihre zahlreichen Kontakte Verbesserungen am Arbeitsplatz. Eine Schwedenreise 1948 motiviert die Sozialdemokratin, Frauenthemen wie Sexualaufklärung einzubringen und einen „Technischen Elementarunterricht“ für Jungs und Mädchen als Schulfach zu fordern.
Nach einem Umzug nach Frankfurt ist sie von 1950-1953 Frauensekretärin beim DGB-Bezirk Hessen. Von 1953 bis 1969 hat die engagierte Frau in Bonn ein Bundestagsmandat inne. Wegen ihres Einsatzes zur Senkung von Massenverbrauchssteuern erhält sie den Beinamen „Bundes-Kaffeetante“. Dem „Typen-Wirr-War“ bei Konsumartikeln setzt sie ein Mehr an Verbraucher-Beratung und staatlicher Kontrolle entgegen. In der neu gegründeten „Stiftung Warentest“ ist sie Vorsitzende des Aufsichtsrates. Während einer Afrikareise bietet der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann den Gastgebern aus Ghana scherzhaft an, man könne seine Begleiterin als Ratgeberin beim Aufbau von Genossenschaften „erwerben“.
Das Gebot – 24 Kühe für die Abgeordnete – überzeugte aber nicht. Der SPIEGEL berichtete das damals unter der Überschrift „Lucies Lebensfreude“. Ihren letzten Lebensabschnitt – sie war inzwischen ein zweites Mal verheiratet – verbrachte die Vollblutpolitikerin 1969-2008 in Schwaig bei Nürnberg. Unter den Gästen ihrer Feier zum 90. Geburtstag (2004) war auch das Ehepaar Loki und Helmut Schmidt aus Hamburg. Gute Kontakte nach Wetzlar – etwa zum langjährigen OB Walter Froneberg – wurden bis ins hohe Alter gepflegt. Irmgard Mende gab auch darüber, was ihr an der portraitierten „starken Frau“ Lucie Kurlbaum-Beyer imponiere, in der Kulturstation Auskunft: „Ihr klarer Blick auf die Gebote einer gelingenden Entwicklungshilfe-Politik, ihr sachbezogenes Debattieren, ihre Beharrlichkeit und ihr Geschick als Vermittlerin. Statt provozierender Härte brachte sie Herzenswärme in die politische Arbeit ein.