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Rede des Stadtverordnetenvorstehers J. Michael Müller anlässlich der Gedenkfeier zur Reichspogromnacht am 09.11.2015 am Holocaust-Denkmal

Rede des Stadtverordnetenvorstehers J. Michael Müller anlässlich der Gedenkfeier zur Reichspogromnacht am 09.11.2015 am Holocaust-Denkmal

Bild: Karola Weil

Sehr verehrte Damen und Herren,

wieder stehen wir an dieser Stelle, an dieser Stehle, um dem unfassbaren entmenschlichten Verhalten, dem Entwürdigen, dem Geschlagen sein, dem Entrechtet sein von Bürgerinnen und Bürgern unserer Stadt zu gedenken.

Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle, eben an dieser Stehle, die rhetorische Frage gestellt, warum wir überhaupt noch gedenken? 77 Jahre - lange her - lange vorbei - alles Geschichte.

Geschichte,

das ist so eine Sache mit der Geschichte.

Sie ist einfach immer da, begleitet uns, zeigt uns auf, was geschehen ist, wie es geschehen ist und möglicherweise auch, was wir daraus lernen sollen.

Nicht umsonst heißt es ja so gerne: wenn Du weißt, woher Du kommst, weißt Du wohin Du gehst.

So wird zurzeit unter den Historikern, vor allem denen, die Deutschland von außen betrachten und denen, die hier in Deutschland lehren, über die singulare Bedeutung des Holocaust, seine Einordnung in das gesamte Grauen des Nationalsozialismus, seine exzessive Gewalt auch anderen Menschen und Gruppen gegenüber, gestritten. Doch darauf kommt es wirklich nicht an.

Mit dieser Veranstaltung wollen wir ganz persönlich, indem jeder von uns hier und heute steht, denjenigen die durch den Zeitablauf, ja eben die vergangene Geschichte, immer mehr ins Vergessen geraten, deren Leid, deren Qual, deren Entrechtung und Entmenschlichung oft nur noch als Datum gesehen werden und deren persönliches Schicksal eben immer mehr im Nebel der Zeit entschwindet, gedenken.

Ihnen, den Menschen, gilt unser erstes Gedenken an diesem Tag, stets stellvertretend auch für die Anderen, die verfolgt, entrechtet, gequält und umgebracht wurden durch politische Ideologie, einen vollkommen irren Rassenwahn und eine Innensicht auf ein Deutschland, welches nicht mehr das große europäische Vaterland der Geistesgrößen, sondern das vor allem der Schlächter und Henker wurde.

Doch wir stehen an einem solchen Tag nicht nur zum Gedenken an diese unfassbaren Vorgänge und Ereignisse der Vergangenheit hier, sondern eben auch immer mit der Frage: "was folgt aus der Erfahrung mit dieser unserer jungen Geschichte?"

Gilt es immer noch? So lange her, vorbei, erledigt, ist es genug?

Man wäre versucht eilig zu rufen: ja erledigt, alles gut jetzt. Die deutsche Geschichte ist länger als 12 Jahre kollektives Versagen, reich an Kultur, reich an Wunderbarem, reich an Erfindungsreichtum reich an ....... und .... und ..... und.

In diesem Jahr muss man wohl deutlicher innehalten, als in anderen Jahren. Muss genauer schauen und werten, muss auf unser Land, auf die Menschen und eben die Geschichte schauen.

Aus den 12 Jahren Wahnsinn und der Erfahrung mit dem Erlebten haben Männer und Frauen als kollektive Antwort unsere neue Verfassung, unser Grundgesetz, geschaffen.

Die Väter und Mütter der Verfassung haben als Antwort auf diese Zeit, ziemlich einzig in der europäischen Verfassungswelt, dem Einzelnen Rechte und Schutz gegen den Staat, aber auch gegen die "Mehrheit" der Anderen, wer immer, wozu immer diese sich artikulieren wollte, gewährt.

Sie haben die Grundrechte entwickelt.

Das schärfste Schwert: der Schutz der Menschenwürde, die in den zwölf Jahren so niederträchtig missachtet und negiert wurde.

Mit der Verpflichtung, dass sich alle, Volk und Staat, zu diesen unveräußerlichen und unverletzlichen Rechten bekennen. Und alle, Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung sind zwingend an diese Rechte gebunden.

Ein Recht welches unveräußerlich ist. Es ist unverzicht- und unabänderbar.

Persönlichkeitsschutz, Gleichheit, ungestörte Religionsausübung, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereins- und Koalitions­freiheit, also Gewerkschaften und Vereine bilden, Briefgeheimnis, Freizügigkeit, Verbot von Zwangsarbeit und Berufsfreiheit, Unverletz­lichkeit der Wohnung, Eigentumsfreiheit, Verbot des Entzuges der Staats­angehörigkeit und früher in Artikel 16 der gewaltige Satz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht".

Alle diese Grundrechte sind, jedes für sich, eine Antwort auf die Verbrechen, die Entrechtung und Entmenschlichung von 12 Jahren Wahnsinn. Sie sind eine Verpflichtung für Alle. Staat, aber auch Bürger, leben mit und in dieser Antwort auf unsere Geschichte.

Warum das heute, hier an diesem Gedenktag?

Nun, Deutschland ist anders als vor einem und sehr viel anders als noch vor zwei Jahren. Wenn wir letztes Jahr geschaut haben auf die Grenzen von Religionsfreiheit, die nicht dazu führen darf, dass sich Menschen im Namen der Religion quasi aus der Verfassung stehlen, dann geht es heute und gerade heute auch um die Frage, was geschieht hier in unserem Land, was passiert hier heute mit den Antworten unserer Verfassung auf den Wahn der nationalsozialistischen Diktatur?

Wenn Menschen auf die Straße gehen, um gegen Flüchtlinge, die zu uns kommen und denen wir, zumindest nach unserer Verfassung, verpflichtet sind Aufnahme zu gewähren, zu demonstrieren zu polemisieren und auch zu agieren, dann ist dies ihr wichtiges verfassungsmäßiges Recht.

Demonstrationsrecht, Meinungsfreiheit schließt denn auch vieles ein, was nicht wirklich fein ist, und auch dies darf im Sinne einer Antwort unserer Verfassung an den Nationalsozialismus sein.

Doch was passiert mit unserem Land, wenn die Begriffe der Ver­gangen­heit wieder aufleben, wieder erscheinen?

Des wird es dann auf den Demonstrationen formuliert oder da steht es dann in den sozialen Medien so schnell hingeschmiert, wie eine Ohrfeige geknallt, "Schmarotzer, Schmeißfliegen, Zecken" steht dort zu lesen. "Die nehmen uns was weg, die kommen und nutzen uns nur aus. Deutschland den Deutschen und für die Werte des christlichen Abendlandes".

Ich kann verstehen, dass Menschen in Anbetracht der geradezu flutartigen Menschenmenge, die nach Europa drängt, Angst bekommen, Bedenken haben und auch deutlich formulieren, dass sie das überfordert, dass sie dies nicht so wollen.

Hier ist gerade Politik gefordert, die Verfassung zu beachten, aber auch durchzusetzen. Eben deutlich zu machen, dass das Asylrecht ein Grundrecht für alle Verfolgten ist welches die Aufnahme erfordert, aber eben gerade nicht gilt für diejenigen, die nur wegen Wohlstand und wirtschaftlichem Wohlergehen kommen.

Es ist zu wichtig, als das wir das Asylgrundrecht denjenigen opfern, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen. Dieses Recht war und ist doch die eindeutige Antwort auf die Nichtaufnahme derjenigen in der Welt, derentwegen wir hier und heute an dieser Stehle stehen. Derjenigen die nach 33 Aufnahme in der Welt suchten und abgewiesen worden quasi direkt in die Feueröfen des Nationalsozialismus.

Der Staat hat deshalb Verantwortung, er muss dieses Recht schützen, aber das schließt gerade auch den Ausschluss von Missbrauch mit und seine Unterbindung mit ein. Nur dann werden Bürger das Recht nicht als Last sondern als Freiheit empfinden können.

Und an diejenigen gerichtet, die so sehr den Untergang des Abendlandes bedauern. Welches Abendland ist gemeint?

Das, in dem mit den Vokabeln der Vergangenheit Menschen gebrandmarkt und entrechtet werden,

das, in dem Polizisten, die unsere Bürger schützen sollen, von jedermann wie selbstverständlich als Bullen und Schweine bezeichnet werden,

das, in dem man die kleine Beule, die man auf dem Parkplatz erzeugt hat, schnell mal übersieht und wegfährt weil es ja nicht wirklich stört,

das, in dem man, nach dem Besuch eines Fastfood Restaurants bedenkenlos Berge von Müll in unsere Landschaft wirft,

das, in dem sonntags die Kirchen selten wegen Überfüllung, eher meistens wegen gähnender Leere geschlossen, werden könnten

das, in dem wir Politiker als Schmeißfliegen, Schmarotzer und Vaterlandsverräter bezeichnen, wenn sie sich bemühen ihrem Auftrag gerecht zu werden.

Oh, was für ein Gedenken, an diesem Tag.

Wo sind sie, die Antworten, die wir an dieser Stelle brauchen?

Wir brauchen wohlwollende Fürsorge für Menschen in Not.

Wir brauchen ein aufrichtiges Ja zu unserer Verfassung und den Werten, die sie ausdrückt.

Wir brauchen aber auch einen Staat, der die Verfassung lebt und ihren Missbrauch effektiv und tatsächlich verhindert.

Wir brauchen Überzeugungskraft für Menschen mit Ängsten, aber auch Klarheit gegen Ausgrenzung und Verachtung.

Wir brauchen eigentlich nur die ersten 20 Artikel unseres Grundgesetzes wirklich leben, damit wir die Geschichte nicht nur als Vergangenes betrachten, sondern als Zukunftsweg und Herausforderung verstehen.

Nie wieder darf es in Deutschland die menschenverachtende Unzeit geben, nie mehr aber auch Wegducken, wenn es um Rechte und Schutz Wehrloser und Verfolgter geht.

Denn dann haben wir gelernt und dann können wir mit Gelassenheit Ängsten begegnen und Fremden in ihrer Not helfen.

Und deshalb: Geschichte gehört zum jetzt genauso wie zum morgen Verantwortung vor der Geschichte sichert unser heute und eben auch unser morgen.

Dafür stehen wir hier und dafür werden wir auch morgen hier stehen.

Und dafür müssen wir auch Stimmen erheben, erinnern und auch handeln. Die Würde des Einzelnen, nicht seine Selbstverwirklichung, nein, die Würde, sie ist unantastbar, sie zu schützten und zu bewahren ist Aufgabe allen staatlichen und auch bürgerschaftlichen Handelns.

Dafür erinnern mahnen und demonstrieren wir hier an diesem Tag, an diesem Ort!

Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme an dieser Demonstration, Ihre Verantwortung und Ihren Willen, diese Werte zu leben und diese Verantwortung zu leben.

Ich wünsche Ihnen eine in Anbetracht unserer Geschichte -im Bösen wie im Guten- nachdenkliche und dennoch schöne Woche in dieser schönen Stadt.

J. Michael Müller
Stadtverordnetenvorsteher