Rede des stellvertretenden Stadtverordnetenvorstehers Lukas Winkler anlässlich der Gedenkstunde zur Reichspogromnacht am 09. November 2022, 17:30 Uhr am Holocaust-Denkmal
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Liebe Herbornerinnen und Herborner,
ich darf Sie im Namen der Herborner Stadtverordnetenversammlung und unseres Stadtverordnetenvorstehers Jörg Michael Müller sehr herzlich zu dieser alljährlichen Gedenkstunde zur Reichspogromnacht begrüßen. Besonders begrüße ich auch Frau Bürgermeisterin Gronau Herrn Roman Pacholek, der dieser Veranstaltung wie jedes Jahr einen würdigen musikalischen Rahmen gibt.
„Gegen das Vergessen – aus der Vergangenheit lernen“
Unter diesem Leitgedanken steht diese Veranstaltung seit langem und führt uns immer wieder vor Augen, dass wir Gegenwart immer nur mit dem Wissen über die Vergangenheit gestalten können. Der 9. November wird schon länger von einigen Historikern „Schicksalstag“ genannt, weil sich die historisch bedeutsamen Ereignisse der deutschen Geschichte an ihm wie an keinem anderen Tag gehäuft haben. 1848 wird Robert Blum als einer der führenden Köpfe der liberalen Demokraten während der Deutschen Revolution in Wien widerrechtlich erschossen. 1918 wird sein Erbe nach dem bis dahin vernichtungsreichsten Krieg der Menschheitsgeschichte mit der Ausrufung der ersten Gesamtdeutschen Demokratie geehrt. 1923 wird die junge Demokratie durch den Hitler-Ludendorff-Putsch in München erschüttert – sie hält noch 10 Jahre, bis eine Diktatur sie jäh beendet. 1989 fällt mit der Berliner Mauer das Symbol einer gescheiterten Diktatur im Osten Deutschlands – bis heute ein Grund zum Feiern.
Und dennoch kann und darf der 9. November niemals Feiertag werden. An diesem Tag ereignete sich 1938 der Höhepunkt der sogenannten „Novemberpogrome“. An diesem Tag verlor eine ganze Nation ein für alle Mal ihre Unschuld. Was die Geschehnisse rund um diesen Tag so schwer begreiflich macht, ist die Tatsache, dass sie nicht auf eine Haupt- oder Großstadt beschränkt waren, sondern auch eine Kleinstadt wie Herborn Tatort von Gewalt, Barbarei und Terror gegen Menschen werden konnte. Freunde und Nachbarn wurden mit einem Wimpernschlag zu Feinden und Ausgegrenzten. Die Namen der deportierten Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens erinnern uns tagtäglich an diese grauenhafte Zeit und mahnen uns, alles Erdenkliche dafür zu tun, dass sich dieser Wahnsinn nicht noch einmal wiederholt.
Jüdisches Leben gehörte seit dem Mittelalter untrennbar zu Herborns Geschichte und wurde ab 1933 systematisch verfolgt, entrechtet und ermordet. In der Nacht vom 8. Auf den 9. November brannte die Herborner Synagoge hinter dem Amtsgericht völlig aus. Jüdische Wohnungen wurden geplündert und demoliert.
Bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 lebten 91 Menschen jüdischen Glaubens in Herborn. 1939 waren es noch 45. Die letzten wurden am 28. August 1942 nach Theresienstadt und in die Vernichtungslager deportiert. 63 Namen von unschuldigen Menschen sind auf diesem Stein verewigt. Alles ersichtlich aus den Akten eines minutiös geplanten Verbrechens. Ein unvergleichliches Beispiel für die perfide bürokratische Systematik der Shoa.
Gegen das Vergessen – aus der Geschichte lernen. Niemals waren diese Worte so aktuell wie heute, denn je weiter der Lauf der Geschichte voranschreitet, desto wichtiger wird die Erinnerung an diese. Eine Forsa-Umfrage vom Oktober 2021 kam zu dem Ergebnis, dass 13 % der Befragten den 9. November mit der Reichspogromnacht in Verbindung bringen. Von den 14 bis 29-Jährigen traf dies auf 4% zu. Keine Altersgruppe kam auf einen Wert über 20%. Wenn die Erlebnisgenerationen dieser Schrecken aussterben, so liegt es an den Bekenntnisgenerationen, das Wissen um diese Verbrechen und die Analyse ihrer Ursachen weiterzutragen.
In den vergangenen Jahrzehnten – auch schon unmittelbar nach der Gründung der Bundesrepublik – wurden Stimmen laut, die meinten, man müsse einen „Schlussstrich“ unter dieses Kapitel der Geschichte ziehen. Andere bezeichneten diesen Abschnitt der deutschen Geschichte in der jüngeren Zeit gar widerlich als „Vogelschiss“.
Wieder Andere laufen teils mit Davidssternen an der Brust und weiteren unsäglichen Vergleichen mit dieser dunkelsten Stunde deutscher Geschichte durch unsere Straßen, um aktuelle Politik zu diskreditieren – Geschichtsvergessenheit auf ganzer Linie.
Oftmals bleiben diese Aussagen und perfiden Vergleiche unwidersprochen. Dafür gibt es vielerlei Gründe: Angst, Desinteresse, Unwissenheit – meist aber auch der Glaube daran, dass sich bestimmte Dinge nicht mehr ereignen werden.
„Für den Erfolg des Bösen reicht es, wenn das Gute nichts tut.“, so ein Zitat. Es gilt – damals wie heute.
Ausgrenzung, Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus, sie ereignen sich jeden Tag, sie ereignen sich auf der ganzen Welt, sie ereignen sich in jedem Volk. Und wo wir ihnen begegnen, müssen wir dieses gesellschaftliche Gift stets bekämpfen und thematisieren. Gerade dann, wenn die geistigen Erben des Faschismus wieder in europäischen Nachbarländern in Regierungsverantwortung kommen.
Ein Kollege berichtete mir von einem Ereignis vom 25. Februar dieses Jahres. Er betrat seinen Klassenraum wie jeden Morgen und bemerkte, dass ein Schüler mit traurigem Blick von den anderen isoliert saß. Sie hatten sich von ihm weggesetzt, obwohl sie am Vortag noch normal miteinander umgingen und miteinander spielten. Auf die Frage, warum sie das gemacht hätten, antworteten sie: „weil er Russe ist“. Dies war ein Ereignis unter vielen. Aber es ist mir besonders eindrücklich im Gedächtnis geblieben, weil sich eine gesellschaftliche Wut auf Kinder übertragen hatte – von Erwachsenen beeinflusst und brandgefährlich.
Wenn Glaube, Hautfarbe und Nationalität zu Kriterien für Ausgrenzung und Diskriminierung gemacht werden, sind wir alle gefragt. Egal, in welchem Kontext sie geschehen.
Das Stichwort lautet: Zivilcourage.
Beispielhaft für dieses Phänomen ist das berühmte Zitat von Martin Niemöller:
Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.
Sich heute Urteile darüber zu erlauben, wie man als Teil der Zivilgesellschaft hätte handeln müssen ist mitunter problematisch.
Aber unstrittig ist, dass wir heute die Pflicht haben, aktiv gegen Unrecht und Terror einzutreten.
Um aus der Vergangenheit zu lernen und Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, müssen wir uns aktiv an sie erinnern, sie muss uns umgeben, sie muss uns durchdringen, sie muss sichtbar sein und braucht Gestalt. Sei es in Form von Stolpersteinen, Denkmälern oder Erzählungen der letzten verbliebenen Zeitzeugen.
Daher kommen wir seit einiger Zeit an diesem Mahnmal der Geschichte zusammen. Um uns zu erinnern. Um das Geschehene in uns wachzurufen und es weiterzutragen. Das sind wir den Opfern von damals schuldig.
Im Anschluss an diese Veranstaltung darf ich im Namen des Schulelternbeirats und des Fördervereins des Johanneum-Gymnasiums zu einer weiteren Gedenkveranstaltung einladen. Sie findet ab 18:30 in der Aula des Gymnasiums statt. Dort wird Frau Dr. Eva Umlauf zum Gedenken an die Reichspogromnacht sprechen. Frau Dr. Umlauf wurde 1942 im Konzentrationslager Novaki in der Slowakei geboren. Ihre Eltern und sie wurden 1944 in die Todesmaschinerie von Auschwitz deportiert, wo sie ihren Vater verlor und eine Tätowierung ihrer „Flüchtlingsnummer“ auf dem Unterarm erhielt – mit zwei Jahren – Entmenschlichung auf ganzer Linie. Nehmen Sie diese Chancen auf Begegnungen wahr, solange sie noch möglich sind. Ich danke Ihnen für Ihr Kommen und das Zeichen Ihrer Anteilnahme.
Nie wieder.
Vielen Dank.