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Vor 200 Jahren: Napoléon schafft die Herborner Zünfte ab

Vor 200 Jahren: Napoléon schafft die Herborner Zünfte ab

Am 7. Februar 1810 veröffentlichte der Präfekt des Sieg-Departements das Dekret Kaiser Napoléons I. v. Frankreich vom 31.3.1809, welches die Zünfte und Innungen im Großherzogtum Berg aufhob. Von nun an dürfte jedermann Gewerbe oder Handel treiben, so lange er sich an die Gesetze hielt, bei der Staatskasse sein Gewerbepatent löste und regelmäßig die Gewerbesteuer, die damals Patensteuer hieß, zahlte. Gewerbefreiheit und Gewerbesteuer sind bei uns zur gleichen Zeit entstanden. Napoléon verordnete sie. Herborn, im Südzipfel des Staates gelegen, gehörte, wie Hadamar, Dillenburg und Siegen, als Teil des Sieg-Departements seit 1806 zu Berg. Napoléon hatte sie nach der preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt den Oraniern abgenommen. Nach einigem Hin- und Her wurde er, als Vormund seines Neffen, unmittelbarer Regent des neuen Staates „Großherzogtum Berg“ und war entschlossen, von Paris aus seine diktatorischen Vollmachten zu nutzen, um aus dem Land einen Modellstaat zu machen, ein Vorbild für die Staaten der mit ihm verbündeten Rheinbundfürsten. Napoléons Statthalter in Düsseldorf, Graf Claude Beugnot, ein gebildeter Jurist und wohlmeinender Zeitgenosse, erscheint uns heute als der richtige Mann dafür. Als kaiserlicher Kommissar und Finanzminister konnte er jedoch nicht, wie er wollte, sondern hatte im Gegenteil so manche schroffe Anordnung des Kaisers und manchen unausgegorenen Plan umzusetzen. Der Kaiser regierte, je größer sein Reich und seine Machtfülle wurden, immer mehr „auf die Schnelle“. Beugnot kehrte von einem Besuch des kaiserlichen Hofes in Paris zudem mit dem unguten Gefühl zurück, dass dort inzwischen die reine Despotie herrschte. Die Art, wie man die Zünfte aufhob, passte zum neuen Stil. Der gute Beugnot musste nicht nur Napoléons Dekret verkünden, dass die Zünfte ersatzlos aufzuheben und dafür neue Steuern einzutreiben seien, sondern auch in einem Geheimbefehl („streng <...> verschwiegen“) anordnen, dass bis zum 16. Februar der Besitz der Zünfte beschlagnahmt sein musste. Wie seine Kollegen im Lande verkündete auch der Dillenburger Präfekt Schmitz, die Aufhebung der Zünfte diene „zur Belebung der inländischen Industrie und des Handels“. Tatsächlich müssen schon damals nüchterne Kenner die neueste „Reform“ als fragwürdig angesehen haben. Die Regierung hatte z.B. kein Bild davon, was eigentlich durch die Beschlagnahme der Zunftvermögen auf sie zu kam: In Herborn waren es, außer einer Handvoll Gewerbebauten und zwei silbernen Siegelstempeln, nur Schulden. Die nunmehr im Staatsbesitz befindlichen Gebäude der Zünfte mussten unterhalten werden. Ausgaben dafür waren jedoch im bergischen Etat, der ziemlich stromlinienförmig auf Napoléons Planungen zugeschnitten sein musste, erst gar nicht vorgesehen. Als daher die Herborner Strumpfwirker 1812 berichteten, dass das Dach der früher ihnen gehörigen Walkmühle einzustürzen drohe, „eierte“ man in Düsseldorf ziemlich herum. Der Bau blieb schließlich immerhin erhalten, das Ansehen der Reformen im „Modellstaat“ Berg hatte jedoch in Herborn einen weiteren „Knacks“ bekommen. Allgemein gesehen war der gravierendste Nachteil der Aufhebung der Zünfte im napoléonischen Stil der ersatzlose Wegfall des beruflichen Bildungsangebots, das die Zünfte bisher gewährleistet hatten.

Am 6. November 1813 endete Napoléons Herrschaft an der Dill. Schon am 20. Dezember hob Prinz Wilhelm Friedrich v. Oranien sämtliche Gesetze auf, die seit seiner Absetzung als Landesherr erlassen worden waren. Die Herborner hätten jetzt ihre Zünfte wiederbeleben können. Dies taten sie jedoch nicht. Offensichtlich erkannte man auch einige Vorteile der Gewerbefreiheit. Hinsichtlich der Ausbildung hatte die Aufhebung der Zünfte allerdings in Herborn weniger geändert als man annehmen sollte: Viele Bürgersöhne wurden ohnehin von ihren Vätern ausgebildet. Den Wegfall des Wanderzwanges dürfte man in den unsicheren Kriegszeiten sogar als Erleichterung begrüßt haben.


Rüdiger Störkel