Herborn, 02.10.2014: Die Herborner Altstadt hat viele historische Details zu bieten, die man im Vorübergehen kaum wahrnimmt. Selbst der aus 23 Schildern bestehende Fries am repräsentativen Altbau des Herborner Rathaus wird gewöhnlich allenfalls beiläufig zur Kenntnis genommen. Das ändert sich derzeit: Seit etwa vier Wochen werden die fast genau 100 Jahre alten Eichenholz-Tafeln aufwändig restauriert, und seitdem richten viele Passanten ihren Blick nach oben.
Anfang nächster Woche soll das Gerüst verschwinden, das Restauratorin Ina Hablowetz und ihren Kollegen den Zugang zu dem Wappenfries zwischen dem zweiten und dem dritten Geschoss des historischen Rathauses ermöglicht hat. In diesen Tagen werden letzte Details gerichtet; die meisten der Familien-, Zunft und Handelszeichen erstrahlen wieder in altem Glanz Die Resonanz in der Stadt ist super!, weiß Rüdiger Störkel zu berichten. Der ehemalige Herborner Stadtarchivar hat die Restaurierung mit den aus Braunfels stammenden Fachleuten akribisch vorbereitet und weiß über die insgesamt 23 Schilder vieles zu berichten, die vor 100 Jahren zur anstehenden 1000-Jahr-Feier in Herborn angebracht wurden. Initiator seinerzeit war der bedeutende Herborner Bürger Johann Heinrich Hoffmann, Gründer der Herborner Pumpenfabrik sowie der Volksbank und des Geschichtsvereins. Ein halbes Jahr nach Fertigstellung der Wappen-Schilder starb er im Alter von 84 Jahren. Die 1000-Jahr-Feier, für die er das Rathaus und den historischen Marktplatz in alter Pracht wiedererstehen und herrichten lassen wollte, fand des Ersten Weltkriegs wegen nicht statt.
Seiner Zeit gemäß wählte Hoffmann eine der wilhelminischen Heraldik entsprechende farbliche Ausgestaltung der Wappen, die auf frühere Schilder zurückgehen, die nach dem Stadtbrand irgendwann nach 1630 am Rathaus angebracht wurden, wie Störkel erzählt. Einige Fragmente dieser alten Schilder sind im Magazin des Stadtmuseums erhalten, andere in einem Raumteiler im Restaurant Hohe Schule eingebaut. Der pensionierte Historiker vermutet, diese ursprünglichen Schilder könnten beim Vergrößern der Fenster des Rathauses entfernt worden sein, etwa um 1850. Damals wurde die Fassade des Rathauses klassizistisch hergerichtet, glatt verschiefert und nur die Geschosstrennungen rot markiert, weiß er. Erst um 1900 sei dann der Putz abgeschlagen und die Natursteine im bis zum ersten Geschoss reichenden Sockel wieder freigelegt worden.
Als die 1000-Jahr-Feier nahte, hätten sich ältere Herborner noch an die alten Schilder erinnern können und sie in ähnlicher Form wiedererstehen lassen wollen, so die These von Rüdiger Störkel. Allerdings fanden in dem Fries von 1914 nun auch bedeutende Herborner Familien Aufnahme, die eigentlich zu jung sind, um in den 300 Jahre älteren Originalvorlagen aufzutauchen die Vermutung liegt nahe, dass sich manch einer vor hundert Jahren in das durch Spenden finanzierte Vorhaben des Unternehmers Hofmann einkaufte, um seiner Sippe so ein Denkmal zu setzen. Möglicherweise nahm man dafür die schlechter lesbaren Originale raus, vermutet der langjährige Stadtarchivar. Nur elf der Originale aus dem 17. Jahrhundert sind noch erhalten, so dass man nichts über die ursprüngliche Zusammensetzung weiß. Wieder mit dabei war beispielsweise die Familie Dilthey, vom Marktplatz aus gesehen auf dem mit dem Kiebitz versehenen dritten Schild von links verewigt. Sie ist in den Augen Störkels auch Indiz dafür, dass bei der Auswahl keine Exklusivität herrschte.
Der Wappenfries bildet einen Querschnitt durch die Bürgerschaft ab, bestätigt auch Restauratorin Ina Hablowetz. Ihrer Meinung nach handelt es sich bei dem Herborner Schilderfries um eine absolute Rarität: In Deutschland ist mir kein weiterer bekannt, da gibt es allenfalls Einzelschilder, erklärt die Fachfrau. Bemerkenswert ist für Störkel auch, dass keineswegs nur die Obrigkeit abgebildet ist, sondern dass ein fast schon als genossenschaftlich zu bezeichnendes Ideal sich in den Abbildungen manifestiert: Wichtig war der Ausdruck des bürgerschaftlichen Zusammenwirkens, der Gemeinschaft und der Tradition, sagt er. Dass die meisten in der Stadt ansässigen wohlhabenderen Familien im Laufe der Jahre im Rat vertreten waren und auch mal den Bürgermeister stellten, ist angesichts der vergleichsweise niedrigen Bevölkerungszahlen jener Zeit gut nachzuvollziehen. Gleichwohl ist nicht bekannt, welche Auswahlkriterien den Schildern zugrunde lagen. Klar ist aber, dass wohl mehrere Bilder vor 100 Jahren zu Einzelschildern gemacht wurden vorher teilten sich nämlich öfter als heute zwei Familien ein Schild, so beispielsweise das heute am versilberten Bären erkennbare Schild Philipp Behrs, des Bürgermeisters im Jahre 1629, das von der Bahnhofsstraße aus sichtbar ist. Der schon vor 100 Jahren als Baumstamm gestaltete Schildteiler unter dem Bären war übrigens seinerzeit ein Bach, denn die Familie Behr ist ursprünglich die von Schönbach - ein Fehler aus historischer Zeit, der aus denkmalpflegerischen Gründen 2014 nicht korrigiert werden konnte, wie Ina Hablowitz erklärt.
Wann Gold und Silber als typische Wappenfarben verschwanden, ist laut Störkel nicht ganz sicher. Er nimmt an, dass die zu Hoffmanns Zeiten aufgetragenen Metallfarben in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bei einer Renovierung nicht erneuert wurden. Mit Blick auf das das Ergebnis der nun abgeschlossenen Restaurierung kann man das nur als gewaltiges Versäumnis bezeichnen, gewinnen die historischen Bildnisse doch durch die Edelmetall-Aufträge erheblich. Störkel ist zudem überzeugt davon, dass das jetzige Erscheinungsbild der Schilder historisch deutlich stimmiger ist als die vorherige Fassung. Zum Schilder-Fries am Rathaus und der ausgefallenen 1000-Jahr-Feier, die vor 100 Jahren hätte stattfinden sollen, findet in den nächsten Wochen ein Vortrag von Rüdiger Störkel statt. Der Termin wird noch bekanntgegeben.
Klaus Kordesch